Nach 25 Jahren hat Joke Lanz sein Soloprojekt Sudden Infant in eine Band transformiert. Geblieben sind die Energie und Radikalität eines Performers, der alles gibt. Ein Portrait über einen Musiker zwischen Abgrund und Menschlichkeit, Irritation und Klarheit. Am Freitag 21.11.2014 tritt am Festival Saint-Ghetto in der Dampfzentrale Bern auf.
Je mehr man ihn hört, desto erkennbarer wird das Massive, das seine Musik besetzt. Die Sounds rütteln am Körper, Stimme und Text reissen das Gehirn auf, die Emotionen kommen ungeschminkt. Sudden Infant ist Hardcore und Sensibilität, Abgrund und Menschlichkeit, Irritation und Klarheit. Das aktuelle Album Wölflis Nightmare, erschienen auf Voodoo Rhythm Records, steht wie ein Findling in der musikalischen Landschaft der herrschenden Harmlosigkeit.
Joke Lanz hat ein Urerlebnis, das seine Musik und sein ganzes künstlerisches Sein geprägt hat: «Mit 13 Jahren hat sich mein Vater mit dem Sturmgewehr eine Kugel in den Kopf geschossen. Dieser Akt der Selbsttötung ist wohl eines der stärksten und brutalsten Gefühle, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ich habe lange versucht, all dies zu verstehen. Um irgendwie darüber hinweg zu kommen, musste ich in den Schmerz und in die körperliche Aktion hineingehen.» Der Nachhall dieser Katharsis tritt in einem Stück wie «Stairs» auf Wölflis Nightmare in beklemmender Intensität zutage.
Klang-Labor Kinderzimmer
Dynamik, Körperlichkeit, Emotionalität, Direktheit, Intuition: Das sind seine ästhetischen Leitlinien, die sich nicht zuletzt im musikalischen Material wiederfinden. «Mich interessieren Körper-Sounds. Klänge, die von Menschen kommen. Emotional aufgeladene Stimmen, Lachen, Schmatzen, Stöhnen, sexuelle Sounds.» In den 25 Jahren ist ein grosses Archiv an Klängen und Geräuschen entstanden, zu dem auch Sounds von befreundeten Musikern oder von alten Schallplatten gehören. Sie bilden den Grundstock des Materials, das Joke Lanz in all den Jahren montiert, geloopt, gefiltert und für seine Sound-Performances eingesetzt hat.
Zehn Jahre nach dem Suizid seines Vaters wurde Joke selber Vater eines Sohnes. Auch dieser existenzielle Einschnitt formte seine Musik. Der draufgängerische Performer, der mit der Punk-Hardcore-Szene aufwuchs und sich im links-intellektuellen Underground bewegte, verliess seine damalige Band Jaywalker, um sich mehr der Familie widmen zu können. «Da ich trotzdem nicht ganz ohne Musik leben konnte, ist Sudden Infant entstanden. Bewaffnet mit Tape Rekordern, Modulatoren und Feedbacks, wurde das Wohn- und Kinderzimmer plötzlich zum Klang-Labor, und mein kleiner Sohn zum Mitmusiker und Inspirator.»
Die Emotionalität und Unmittelbarkeit, wenn Kinder spielen, hat ihn mindestens so stark beeinflusst wie all die Punk- und Hardcore-Acts der ersten Stunde oder Industrial Bands wie Throbbing Gristle und Einstürzende Neubauten. Es ist diese so elementare wie intuitive Energie, wie sie sich als Sudden Infant manifestiert und auch bei seinen Auftritten als Turntablist zum Ausdruck kommt. Mit blitzschnellen Wechseln, Scratchen und Loopen von Vinylschallplatten generiert er Instant-Kompositionen, inspiriert von der Cut Up Technik, die ihm William S. Burroughs und die frühen Nurse with Wound näher brachten. Wer das Glück hatte, von 1989 bis 1995 auf Radio LoRa die monatliche Sendung Psychic Rally mit Sudden Infant und Rudolf Eb.er mitzuverfolgen weiss, was da an Collagen im Äther tobte.
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Ängste und Abgründe
Aber auch Abgründe und Radikalitäten sind der Erosion ausgesetzt. «Als die Punk- und New Wave Bewegung komplett kommerzialisiert wurde, war für mich klar, es gibt nur noch Noise und Industrial, um musikalisch Dinge aufzureissen und tiefer zu graben.» Mittlerweilen hat auch Noise viel von seiner Dringlichkeit verloren. Er beobachte fast schon eine Trend-Szene, die sich der Noisemusik bediene, um exotisch zu wirken und irgendwie aufzufallen, sagt Joke. «Aber da steckt fast nichts dahinter, keine Energie, keine Wut, keine klaren Aussagen.» Für ihn selber haben sich die Notwendigkeit von Noise und der puren Provokation verflüchtigt. Er sagt: «Meine Musik ist vielseitiger geworden, aber auch unvorhersehbarer.»
Ob als Sudden Infant, als Turntablist oder in den sporadisch gewordenen Auftritten in der Performance-Gruppe Schimpfluch: Joke Lanz zerstört Erwartungen und Sicherheitsnetze, bricht auf, irritiert. Das gilt bis heute, wo sich die Parameter verschoben haben, wo er weniger Klangkunst macht, stärker Geschichten erzählt und Geräusche und Loops nur noch sehr gezielt verwendet. Er sucht nicht mehr auf Biegen und Brechen das Extreme, sondern konzentriert sich darauf, seinen ureigenen Ausdruck so zu fokussieren, dass Leute berührt werden. Seine Musik geht noch immer direkt unter die Haut. Sie mag eine Dosis subtiler geworden sein, aber sie wirkt umso nachhaltiger.
Die ungeschminkte Art, mit der sich Joke den Emotionen aussetzt, leuchtet auch in Ängste und Abgründe. Die Menschlichkeiten, ihre Schrecknisse und Gefühlslagen, interessieren ihn. Er beobachtet, verarbeitet, sucht die Essenz. «Ich mag Aufzählungen, Wiederholungen und kleine Stories aus einer irrationalen Kinder- und Geisterwelt, die dann plötzlich explodieren können, textlich wie auch musikalisch.» Früher hatte er sich bei Auftritten die Kleider vom Leib gerissen und zwischen Tape-Rekordern seine nackte Haut verletzt und den Körper auf kalten Steinböden gepeinigt. «Da musste ich einfach durch, es war wie eine Therapie.»
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Der letzte Moment
25 Jahre später hat die Musikalität von Joke an Tiefenschärfe gewonnen. Das langjährige, einsame und aufwühlende Solo-Projekt Sudden Infant hat er zum Trio mit Christian Weber (Bass) und Alexandre Babel (Drums) transformiert. «Ich bin nicht der Frontmann, alle sind gleichberechtigt.» Joke Lanz speist die Band weiterhin mit seinen Ideen. Aber jetzt arbeitet er sozusagen mit lebendigem Material, interagiert mit zwei herausragenden Instrumentalisten, kann Sounds und Rhythmen delegieren und sich stärker denn je auf den Moment konzentrieren, da er die Stimme durch die Mikrofone jagt und in physischer Intensität seine Texte formt.
Diesen Oktober sind Sudden Infant mit ihrem Wölfli Nightmare in halb Europa unterwegs. Bei den vier Gigs in England treten sie mit den trashigen Spoken Word-Punks von Sleaford Mods auf, unter anderem im legendären 100 Club an der Oxford Street in London. Joke Lanz stehen die Türen weiter offen, als so mancher gehypter Indie Band, nur dass er damit nicht die Massenmedien beschallt. In einer Zeit, «in der Fliessbandmusik nach vorgefertigten Elementen erstellt wird und Popbands eigentlich die neuen Schlagergruppen sind» fühlt er sich trotzdem am richtigen Ort.
Joke Lanz hat neue Facetten seiner Ausdrucksweise entwickelt, aber er ist heftig und wahrhaftig geblieben. Seine Konzerte machen das spürbar: «Ein Auftritt hat für mich heute noch etwas Ultimatives, etwas Abschliessendes, als wäre es mein letzter Moment im Leben.»
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der WoZ-Musikbeilage «In der aufregenden Gegenwart», WoZ Nr. 43/2014 vom 23.10.2014. Redaktion: Thomas Burkhalter und Benedikt Sartorius.
Sudden Infant Live (2014)
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Joke Lanz auf Norient (Archiv)
Im Projekt «Sonic Traces from Switzerland»
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